Der in den letzten Monaten zunehmend in Vergessenheit geratene Konflikt im Osten der Ukraine war Ausgangspunkt einer Podiumsdiskussion, die wir am 1.11.2017 im Rathaus Charlottenburg veranstaltet haben.
Übergreifendes Thema war der seit Februar 2014 unterschiedlich intensive Krieg zwischen regulären russischen Truppen und Milizen sowie der ukrainischen Armee und Freiwilligenverbänden in den beiden ostukrainischen Oblasten Donezk und Luhansk. Der spezifische Anlass war die am darauf folgenden Tag stattfindende UEFA Europa League-Begegnung zwischen Hertha BSC und dem Zorya Luhansk im Berliner Olympiastadion.
Der Meister der UdSSR von 1972, der im Jahr 1923 gegründete FK Zorya Luhansk, trägt seine Heimspiele seit der Saison 2014/15 in der rund 360 Kilometer weiter westlich gelegenen Stadt Saporischschja aus. Dieser Schritt wurde aufgrund der seinerzeit heftigen Kampfhandlungen in und um Luhansk dringend notwendig und hält als Zustand bis heute an.
Die rund 60 Zuhörerinnen und Zuhörern durften den Ausführungen der drei ukrainischen Gäste auf dem Podium folgen. Namentlich die mittlerweile in Berlin lebende Historikerin aus Chernivtsi, Oleksandra Bienert, die u.a die ukrainische Initiative „PRAVO Berlin Group for Human Rights in Ukraine“ gegründet hat, die aus Donezk stammende und aktuell in Kyiv wohnhafte Mitarbeiterin des NGO-Netzwerks „International Medical Corps“ Oksana Dmytriak sowie das Mitglied der Fan-Gruppe „Zarnitsa“ von Zorya Luhansk Ihor Kovtun, der mittlerweile als IT-Entwickler an einer Fußball-App in Poltava lebt. Als Moderator führte der Journalist, Osteuropa-Experte und Initiator der „Fankurve Ost“ Ingo Petz durch den Abend. Nach der freundlichen Begrüßung aller Gäste durch den Charlottenburger Bezirksstadtrat für Stadtentwicklung, Bauen und Umwelt Oliver Schruoffeneger stellte der stellvertretende Vorsitzende von „Gesellschaftsspiele e.V.“ Peter Dittmann zunächst kurz die Arbeit des Vereins vor.
Im Anschluss eröffnete Ingo Petz mit einer kurzen Schilderung der Vorgeschichte des Konflikts und der aktuellen Situation in der Ostukraine umgehend die Diskussion. Er erinnerte auch daran, dass sich bereits 2013 viele Ultras bei den großen Demonstration beteiligt, sich wiederholt schützend vor Demonstranten gestellt und mehrheitlich eindeutig gegen die Separatisten positioniert hatten. Interessant waren auch die Erläuterungen zu den von der Situation der Vereine in Deutschland gänzlich unterschiedlichen Lage der ukrainischen Vereine, die sich nahezu ohne Ausnahmen quasi im Privatbesitz sog. „Oligarchen“ und damit auch in völliger finanzieller Abhängigkeit von diesen befinden. Er verglich die Lage auch mit derjenigen auf der von Russland annektierten Krim, wo sich viele Vereine mit ihrer plötzlich von oben angeordneten Auflösung konfrontiert sahen. Auch dort wählten diverse Vereine die Flucht als Ausweg oder gründeten sich zum Teil neu.
Im Folgenden erzählte Ihor Kovtun von seinen Erfahrungen während seiner Zeit bei der ukrainischen Armee sowie von der Beteiligung vieler Fans und Ultras bei den Protesten auf dem sog. Euromaidan in Kiew und dem Rest des Landes zwischen November 2013 und Februar 2014. Er verwies darauf, dass alleine schon aus Gründen der größeren Anhängerschaft viele Fans von Schachtar Donezk und Metalurh Donezk bei den Protesten sehr aktiv waren und dementsprechend auch größere Probleme mit den Sicherheitskräften bekamen als die Anhänger des kleineren Vereins Zorya Luhansk. Auch zeigte sich die Sicherheitslage nach Beginn der Kämpfe in Luhansk seiner Aussage zufolge zunächst weitaus ruhiger als in der Millionenstadt Donezk. Nichtsdestotrotz kamen auch dort nach der Unabhängigkeitserklärung der Separatisten im Mai 2014 mehrere Fans in längere Haft, ohne dass diesen die Möglichkeit zu Kontakt mit Familie und Freunden gegeben wurde.
Unter diesem Eindruck und den zunehmenden Repressionen verließ ein Großteil der älteren und organisierten Fans die Stadt, nur einige Jüngere, die noch bei ihren Eltern lebten, blieben vor Ort. Trotz der teils traumatischen Erfahrungen, die natürlich alle Bewohner der Stadt erdulden mussten, legte Ihor Kovtun doch auch gewissen Wert auf die Feststellung, dass speziell für viele bis dato eher unpolitische Fans der Konflikt gewissermaßen eine Art „Erweckungserlebnis“ darstellte. Trotzdem war es auch es auch allen Anhängern zu Beginn des Konflikts wichtig, dass keinerlei Gruppenzwang speziell auf Jüngere zu einer eindeutigen politischen Stellungnahme ausgeübt wurde. Eindeutig verurteilte er jedoch das Verhalten der separatistischen Sicherheitskräfte, die zum Beispiel mehrmonatige Haftstrafen sogar für Minderjährige lediglich für das öffentliche Zeigen der ukrainischen Fahne in Luhansk verhängt hatten. Ebenso eindrücklich schilderte er auch die letztlich schnell zerstörte Hoffnung aller Flüchtlinge aus Luhansk, dass es sich bei dem Krieg nur um ein kurzes Unterfangen mit der Möglichkeit zur baldigen Rückkehr handeln würde.
Ähnlich äußerte sich darauf hin auch Oksana Dmytriak, die gleichermaßen auf ein möglich schnelles Ende der Kampfhandlungen gehofft und erst nach einigen Monaten den endgültigen Entschluss für das Exil gefasst hatte. Sie beantwortete auch die Frage von Ingo Petz nach der Lage der insgesamt ca. 1,7 Millionen Flüchtlinge aus Donezk und Luhansk in der restlichen Ukraine. Diese leben bis heute meist in der Nähe der beiden genannten Städte bzw. Regionen, um somit ggf. nach einer Änderung des Status quo schnell wieder in die Heimat zurückkehren zu können. Problematisch gestalte sich jedoch nach wie vor die Wohn- und Arbeitssituation vieler Vertriebener, da sie zum einen mit der lokalen Bevölkerung um Arbeitsplätze konkurrieren müssen und zum anderen auch durch die von vielen als diskriminierend empfundenen speziellen Flüchtlingsausweise generell benachteiligt sind. Im Großen und Ganzen verhalte sich aber die ukrainische Bevölkerung eher solidarisch mit den Geflüchteten und sei auch weitgehend hilfsbereit.
Auf die Frage von Ingo Petz nach den derzeitigen Arbeitsbedingungen der NGOs in der Ostukraine dankte Oleksandra Bienert zunächst dem Bezirk Charlottenburg-Wilmersdorf, der als einziger Berliner Bezirk bereits seit 1991 eine Partnerschaft mit der Stadt Kiew pflegt. Der Schwerpunkt der Arbeit vor Ort sei die juristische und finanzielle Unterstützung von Witwen und Waisen sowie die Forschung nach dem Schicksal von verschwundenen Personen, von denen es noch immer und anhaltend sehr viele gäbe. Eigene Büros könne man jedoch weder in Donezk noch in Luhansk unterhalten, man sei vielmehr auf die enge Zusammenarbeit mit lokalen und regionalen Helfern und Informanten angewiesen. Exemplarisch nannte sie auch die gefährliche Situation von ortsansässigen Journalisten, die für ihre Mitarbeit ein hohes Risiko an Repressionen durch die Separatisten eingingen. Ebenso schwierig sei die Situation etwa für schwangere Frauen, denen nur unzureichende medizinische Versorgung zur Verfügung stehe.
Im Anschluss fragte Ingo Petz dann Ihor Kovtun nach der Rolle und Bedeutung des Vereinssupports im Krieg, woraufhin dieser deren große und gewachsene Bedeutung auch im Exil und den engen Zusammenhalt der Exilfans in verschiedenen Städten betonte. Man treffe sich nach Möglichkeit zu allen Heim- und zu den Auswärtsspielen, die Unterstützung seitens der lokalen Bevölkerung speziell für Luhansk sei sehr gut, wohingegen seiner Meinung nach die Anhänger von Donezk von vielen Ukrainern völlig zu Unrecht oftmals als heimliche Sympathisanten der Separatisten verdächtigt würden. Im Gegensatz hierzu würden viele Ukrainer hingegen die Mannschaft und den Verein von FK Zorya Luhansk als Nationalhelden feiern, was er persönlich natürlich begrüße, jedoch auch für Shakhtar Donezk für durchaus angemessen hielte, da diese ja das gleiche Schicksal im Exil teilen müssten. Die Nachfrage von Ingo Petz nach Struktur und Handeln der ukrainischen Freiwilligenverbände beantwortete Ihor Kovtun dahingehend, dass diese in Luhansk seinerzeit weniger militärisch, sondern eher organisatorisch tätig gewesen seien.
Oksana Dmytriak äußerte sich dann zur der von Ingo Petz gestellten Frage nach der Möglichkeit von Verwandtenbesuchen in den Separatistengebieten. Diese seien zwar grundsätzlich, jedoch nur nach sehr aufwendigen und zeitraubenden Formalitäten möglich. So müsse man sich online registrieren lassen und eigens ein Visum beantragen, beim Grenzübertritt seien mehrere Posten zu passieren und es komme häufig zu stundenlangen Wartezeiten. Auf der ukrainischen Seite gäbe es außerdem Beratungsbüros diverser NGOs, auf separatistischer Seite nicht. Besonders lange dauere die Einreise mit dem Pkw, doch auch mit dem Zug müsse man einige Stunden einkalkulieren. Es gäbe auch keine sog. „grüne Grenze“, vielmehr seien illegale Grenzübertritte je nach genauem Ort fast immer lebensgefährlich. Ingo Petz fragte dann nach der grundsätzlichen Stimmung bei der Arbeit der NGOs und inwiefern diese angesichts solcher Schwierigkeiten inzwischen eher resigniert agieren würden.
Oleksandra Bienert bestätigte diese Annahme zum Teil, verwies aber auch auf kleine und Mut machende Fortschritte auf dem Weg zu einer Zivilgesellschaft. Als Beispiel nannte sie die erfolgreiche Gründung eines Restaurants durch 100 private Teilhaber in Ivano-Frankivsk, dessen Gewinne für weitere Neugründungen verwendet werden soll. Auch gäbe es seit Neuestem ein besseres Auswahlverfahren für die höchsten ukrainischen Richter, viele NGOs und Wissenschaftler werden jedoch bei ihrer Arbeit in weiten Teilen der Ostukraine behindert, Veranstaltungen werden mutwillig gestört. Ingo Petz erkundigte sich dann bei Ihor Kovtun inwiefern ukrainische Vereine in der Zukunft womöglich tendenziell unabhängiger von den allmächtigen Oligarchen werden und sich etwa nach deutschen oder westeuropäischen Vorbild als Mitgliedervereine gründen könnten. Hierfür sehe er aufgrund mangelnder finanzieller Ressourcen und wenig Erfahrung mit derartigen Strukturen leider nur wenige Chancen, er merkte jedoch an, dass der Krieg tendenziell schon ein wenig als Anstoß für eher selbstständiges Denken und Eigeninitiative gewirkt habe.
Auf die Frage nach der aktuellen Finanzierung des FK Zorya Luhansk durch den Besitzer verwies Ihor Kovtun darauf, dass dieser viele seiner Unternehmen in der Region Luhansk verloren und somit momentan auch weniger Geld für die Mannschaft zur Verfügung habe. Die Spieler würden jetzt sehr viel stärker leistungsbezogen entlohnt, man setze außerdem große Hoffnungen auf junge Talente aus dem Ausland, die in der Vergangenheit bereits größere Transfersummen einbringen konnte. Sehr stolz sei man unter diesen erschwerten Bedingungen auch auf die Teilnahme an der UEFA Euro League, die man als Chance für weitere Bekanntheit und auch finanzielle Möglichkeit sehe. Die anschließenden Fragen aus dem Publikum an Ihor Kovtun drehten sich vor allem um seinen potenziellen bzw. eventuellen Rückkehrwillen nach Luhansk, den er jedoch zurzeit nicht sehr ausgeprägt sehe. Gleiches gelte seiner Meinung nach auch für den Verein, der nicht ohne Weiteres wieder vor Ort ansässig werden könne.
Das einstige Stadion sei auch stark in Mitleidenschaft gezogen worden, es gäbe nur ein sehr rudimentäres Trainingsgelände, ein kleineres Stadion sei komplett zerstört worden. Die Frage nach einer anhaltenden Politisierung der Ultras aus Luhansk sehe er ebenfalls eher zwiespältig, er persönlich lehne die Zuschaustellung ukrainischer Nationalsymbole und übertriebenen Patriotismus bei Vereinsspielen eher ab, allenfalls bei Auftritten der Nationalmannschaft sei dies gerechtfertigt. Überhaupt sei der Stellenwert des „Politischen“ in der Ukraine ein grundsätzlicher anderer als in Westeuropa, anders als hier wäre es dort um Einiges gefährlicher, zu eindeutig Stellung für eine Partei oder politische Richtung zu beziehen. Die Frage aus dem Publikum nach Kontakten zwischen NGOs und Ultras in der Ukraine konnte nur im Ansatz beantwortet werden, ausgeprägte Verbindungen gäbe es nach Wissen der Anwesenden wohl eher nicht. Dafür aber gute Projekte wie etwa die Gründung eines Fußballvereins für Veteranen, der sehr populär und speziell auch hilfreich bei der Traumabewältigung für die Betroffenen sei.
Zum Abschluss beantwortete Ihor Kovtun noch die Frage aus dem Publikum nach den in Europa weit verbreiteten Vorurteilen, denen zufolge es in den Ultraszenen in der Ukraine einen ausgeprägten Rassismus sowie häufig rechtsradikale Positionen gäbe. Seiner persönlichen Einschätzung nach hätte sich dies durch den Krieg eher abgeschwächt, da viele Individuen nun begriffen hätten, dass nicht Hautfarben, sondern vielmehr Nationalismus und vor allem Korruption die wirklich gefährlichen Übel der Gesellschaft in der Ukraine wären.
Auch die Frage nach dem Verhältnis zur Polizei bzw. Probleme mit dieser bei Spielen wurde als für die Ukraine eher weniger bedeutsam beantwortet, da diese nur im Ausnahmefall Zutritt zu den Stadien hätten. Als alle Fragen aus dem Publikum beantwortet waren, vertiefte sich ein Großteil der Anwesenden im Anschluss noch in Gespräche mit- und untereinander und lies den Abend gemütlich ausklingen.
Im Rahmen der Veranstaltung konnten wir 80 Euro für die ukrainische NGO „Poruch“ sammeln. Poruch arbeitet in Kramatorsk und leistet psychologische und soziale Unterstützung für Menschen, die aus den Konfliktgebieten fliehen mussten und durch den Krieg beeinträchtigt sind.