Gesellschaftsspiele goes Istanbul

Eine kleine Delegation von Gesellschaftsspiele ist Ende Juni nach Istanbul gereist, um den Gerichtsprozess gegen 35 Beşiktaş- Angeklagte zu beobachten. Vor Ort wollen wir uns einen Einblick in die politische Lage in der Türkei verschaffen. Diese hat sich seit den Gezi-Protesten 2013 wesentlich geändert. Hier unser Bericht:

Carsi-Banner

Çarşı-Unterstützer vor dem Gerichtsgebäude

Ein wunderschöner sonniger Freitag Morgen in Istanbul. Das Hubkonzert hunderter Autos mutet wie ein wahres Verkehrschaos an. Trotzdem fließt der Verkehr dank Ramadan wohl nicht so zäh wie sonst. Unser Taxi schlängelt sich durch die kleinen Straßen. Überall sitzen Leute vor ihren Häusern und Läden, schlürfen an ihrem Tee oder beobachten das rege Treiben auf den Straßen.

Endlich erreichen wir das angeblich zweitgrößte Gerichtsgebäude Europas. In diesem Monstrum findet der dritte Verhandlungstag gegen die Fußballfans von Beşiktaş Istanbul statt. Der Fan-Gruppe Çarşı wird ein Putschversuch im Rahmen der Gezi-Proteste 2013 vorgeworfen. Den 35 Angeklagten droht eine Haftstrafe von bis zu 49 Jahren, die Höchststrafe in der Türkei. Die Staatsanwaltschaft beschuldigt die Fans einen Staatsstreich geplant zu haben, indem sie unter anderem ausländischen Medien Fotos von Straßenkämpfen weitergegeben haben. Das sollte die Proteste als eine Art Türkischer Frühling erscheinen lassen. Viele erwarten jedoch einen Freispruch, da alle Belastungszeugen ihre Aussage zurückgezogen haben.

Gerichtsgebäude

Hier wohnt Justitia

Als wir am Gerichtsgebäude ankommen, bringen gerade einige Beşiktaş Fans ein Transparent gegenüber des Eingangs an. Der Banner zeigt eine verbeulte Justizia und spielt auf den fragwürdigen Prozess an. Wir folgen neugierig einem Fan und finden schließlich an die 150 Beşiktaş Anhänger, die sich bereits vor dem Prozesssaal versammelt haben. Die Stimmung schwankt zwischen Anspannung und offen nach außen getragener Lockerheit. Man begrüßt und umarmt sich, raucht auf der Toilette gemeinsam eine letzte Zigarette vor der Verhandlung. Langsam trudeln auch die Angeklagten mit ihren Anwälten vor dem Prozesssaal ein.

Sun is shining, the weather is sweet

Eigentlich erwarten heute alle das Plädoyer des Staatsanwalts, nachdem im April die Beweisaufnahme abgeschlossen wurde. Jedoch beantragt dieser gleich zu Beginn das Verfahren auf September zu vertagen, man habe bei einem der Angeklagten eine Waffe gefunden. Unklar bleibt, wem die Waffe genau gehört. Trotz eines Antrages der Verteidigung, diesen Fall separat zu Beschuldigten aufrecht zu erhalten. Nach bereits zehn Minuten ist der Verhandlungstag schon wieder vorbei.

Alle Erwartungen, die angeklagten Fans mögen deshalb frustriert sein, werden binnen weniger Momente zerschlagen. Gemeinsam mit ihren Beşiktaş-Freunden singen sie noch im Gerichtsgebäude lautstark ihre Fanlieder und verlassen unter den etwas irritierten Blicken der Passanten das pompöse Bauwerk. Vor der Türe wird zur Feier ein Rauchtopf gezündet, die anwesenden Medien bekommen ein paar wundervolle Bilder. Die Angeklagten und ihre Anwälte geben Interviews.

Ohne Rauch gehts auch – aber mit ist besser

 

Nachdem langsam die Gesänge verklungen sind und die Menschenmenge sich aufgelöst hat, begeben wir uns mit dem Prozessbeobachter und Bundestagsabgeordneten der Grünen, Özcan Mutlu, zu einem naheliegenden Café. Hier sprechen wir mit ihm über seine ersten Eindrücke des Prozesses. Mit dabei sind auch zwei Vertreterinnen des deutschen Konsulats sowie der türkischen Außenkorrespondent der Berliner Zeitung und ein freier Journalist der Bild und BZ. Für Mutlu und die anderen Anwesenden hat sich der Eindruck schnell verfestigt, dass die Verschiebung des Prozesses auf politischen Druck zurückzuführen ist. Momentan finden in der Türkei Koalitionsverhandlungen statt. Bei den Parlamentswahlen Anfang Juni hatte die AKP von Präsident Erdoğan überraschend die absolute Mehrheit verloren. Noch ist unklar, ob die Koalitionsgespräche erfolgreich verlaufen oder bald Neuwahlen anstehen. In dieser Phase politischer Unsicherheit soll es keine Signale der Liberalisierung geben, kein Sieg für die Gezi-Demonstranten über eine parteiische Justiz.

Gleich im Anschluss treffen wir Freddy Pitschak und Naz Gündoğdu, die gegenwärtig für ihr Filmprojekt „Geisterspiel/Boş tribünler“ drehen. Der Film beleuchtet die Situation der türkischen Fußballfans im Sommer 2015 und die damit verbundenen Repressionsmaßnahmen. Freddy und Naz berichten wie Fußballfans während der Gezi-Proteste zu den Hauptfeinden Erdoğans wurden. Nach der Niederschlagung der Proteste wurde zum einem ein elektronischer Fan-Ausweis, die „Passolig“, eingeführt. Ohne diese Fan-ID kommt man nun nicht mehr in Fußballstadien. Die Plätze sind personalisiert und die persönlichen Daten werden nicht nur zur Überwachung der Fans genutzt, sondern dienen auch den Geschäftsinteressen der Aktif-Bank. Denn nur mit einer Kreditkarte der Aktif-Bank, lässt sich die „Passolig“ beantragen. Die Folge sind halbleere Stadien, manche Erstligaspiele finden nur noch vor 500 Zuschauern statt. Zum anderen gibt es nun das Gesetz 6222 zur „Verhinderung der Gewalt und Unruhe im Sport“, mit dem es fast jede Woche Tribünensperren gibt, meist nur wegen belanglosen Lappalien.

Passolig

Anti-Passolig-Banner

Auf Nachfrage erklärt Freddy, dass die türkischen Fußballfans sich von solchen Repressionsmaßnahmen jedoch nicht unterkriegen lassen und die Fankultur in der Türkei trotz Unterdrückung weiterlebt. Die Fußballanhänger wehren sich. Mittlerweile haben Fans verschiedener Vereine die Initiative „Taraf-Der“ gegründet, die vor Gericht gegen den Fanausweis „Passolig“ klagt. Seit dem Gezi-Sommer kommen die Fans nicht nur in Istanbul, sondern zum Beispiel auch in Izmir und Adana zusammen. Zum Teil demonstriert man gemeinsam am 1. Mai. Es gibt seither jede Menge Veranstaltungen, bei denen sich die Vereine untereinander austauschen und sich gemeinsam gegen die Repressionen widersetzen.

Nach diesem ereignisreichen Vormittag haben wir genug Zeit zu Fuß die kulturell gegensätzliche und doch auch in sich harmonierend erscheinende Stadt zu erkunden. Wir schlendern durch die engen Gassen an den mit alter Farbe verzierten Steinhäusern vorbei und lassen uns in einem kleinem Bistro im fast schon idyllischen Viertel Galata nieder. Während wir unsere ersten Eindrücke herunterschreiben, genießen wir das bunte Treiben um uns herum.

Gala

Alles so schön gelb und rot hier. Gala(tasaray Istanbul) wurde gerade Meister in der türkischen Süper Lig.

Am Abend brechen wir ins Viertel Beşiktaş auf, die legendäre Heimstätte des gleichnamigen Vereins und der Çarşı Anhängern. Dabei stoßen wir eher zufällig auf den mit tausenden feiernden jungen Leuten gefüllten Abbasağa Park. Dort erfahren wir, dass sich seit dem Gezi-Sommer die Leute, auch auf Initiative von Çarşı, zum Fastenbrechen während der Ramadan-Zeit treffen. Demnach hat sich dieses Ereignis im Park, als eine Form von politischer Demonstration gegen die Regierung etabliert.

Erdogan

Als die Nacht hereinbrach über Beşiktaş Istanbul

Nachdem wir in den verwickelten Gassen Beşiktaş noch eine kleine Bar aufgefunden haben, um dort zum Abschluss des Tages ein paar Raki zu uns nehmen, fahren wir beseelt und heiter (der ein oder andere Raki war dann vielleicht doch zu viel) in unsere Unterkunft nahe des Taksim Platzes und schlafen wohlgesonnen ein.

 

Text und Fotos: Peter Dittmann und Luise Hilmers für Gesellschaftsspiele